ich würde anfangen mit 5-10 jahren klassischem unterricht. danach gibts es bestimmt unzählige bücher, in denen ausgeschriebene Boogies stehen, aber auch erklärt wird, wie man selber darüber soliert
Das ist vielleicht in der Theorie ein lobenswerter Ansatz, im wahren Leben aber totaler Käse. In meinen Augen ein Trugschluss. Leider ist diese Ansicht viel zu sehr verbreitet, insbesondere bei ambitionierten Eltern. Denn sonst würden heute vermutlich viel mehr begnadete Boogie/Blues/Jazz Klavierspieler unter uns weilen. Um das zu begründen muss ich etwas weiter ausholen. Normalerweise bin ich in Internetforen immer nur stiller Mitleser, diese Aussage hat mich aber dazu bewegt, mich hier in diesem Forum anzumelden. An der Stelle noch ein kurzes "Hallo" an alle.
Ich denke mir geht es wie vielen anderen auch. Als Kind und in der frühen Jugend wurde man mehr oder weniger zum Klavierspielen gedrängt. Mein Vater ist ein sehr musikalischer Mensch, deshalb lag ihm viel daran, dass die Kinder natürlich auch eine gute musikalische Ausbildung erhalten. Obwohl mein Vater selbst Jahrezehnte lang als Keyboarder in einer Band für Unterhaltungsmusik gespielt hat, galt bei der musikalischen Ausbildung der Kinder der Grundsatz: Erst Klassik, dann Klassik, dann vielleicht etwas Anderes. Ich konnte mich zwar mit den Stücken die ich lernen musste abfinden und in gewisser Hinsicht auch anfreunden, so richtig einer abgegangen ist mir dabei aber nie. Man hat es halt so hingenommen. Gespielt habe ich viel von Bach, Schumann und Beethoven.
Mit ungefähr 14 Jahren verging mir dann allmählich die Lust am Klavierspielen. Es kam mir einfach zu Altbacken vor, wenn man in der Schule im Musikunterricht oder sonst wo nur klassische Lieder spielen konnte. Während andere die dicke Show abzogen, saß man selbst da und hat trostlose klassische Musik gespielt. Das zwar sehr gut, aber das interessiert doch niemand - den Vater, die Oma und den Musiklehrer vielleicht. Echt coool!
Daher habe ich im Alter von 14 bis 17 Jahren fast nur noch einmal die Woche Klavier gespielt, nämlich im Unterricht. In der Freizeit hatte man bei Gott anderes zu tun, als Lieder zu üben, hinter denen man garnicht richtig steht. Das Üben war einfach nur eine Pflicht, so wie Schule oder Hausaufgaben. Es war kein eigener Antrieb dahinter. Die logische Folge war, dass ich das Klavierspielen mit 17 ganz aufgehört habe.
Mit 28 habe ich dann bei Youtube zufällig ein Video vom Maple Leaf Rag von Scott Joplin gesehen. Kurz darauf die ersten Videos von Boogie Woogie Stücken. Gefesselt von dieser Musik und der damit verbundenen Spielweise, habe ich mich über Nacht dazu entschieden ein E-Piano zu kaufen, über 10 Jahre nachdem ich das letzte Mal eine Taste auf einem Klavier gedrückt habe. Ein E-Piano deshalb, weil ich mir noch nicht ganz sicher war, wie sich die Dinge entwickeln werden - also ob ich am Klavier spielen dran bleibe oder nicht.
Als erstes habe ich ein paar alte Klassiklieder geübt, die ich in der Kindheit gespielt habe. Einfach nur um ein schnelles Erfolgserlebnis zu haben. Es vergingen keine zwei Wochen, dann hatte ich einige dieser Lieder wieder drauf. Ich habe sie gespielt, als hätte ich mit Klavier spielen nie aufgehört. Ich war zufrieden. Doch jetzt wird es interessant. Denn das E-Piano habe ich mir ja nicht gekauft, um wieder die alten Schinken zu spielen, sondern um den Maple Leaf Rag und Boogie Woogie zu lernen.
Im guten Glauben, dass man durch die klassische Ausbildung quasi den Grundstein zu Allem gelegt hat, wagte ich mich als erstes an den Maple Leaf Rag und an ein Boogie Woogie Stück aus einem Einsteigerbuch. Zugegeben, mit dem Maple Leaf Rag kam ich sehr gut zu recht. Dass man in der Kindheit schonmal Klavier gespielt hat, auch wenn es nur Klassik war, hat also definitv etwas gebracht. Beim Boogie Woogie sah die Sache schon wieder anders aus, obwohl es wirklich die totalen Einsteigerstücke waren.
Durch die klassische Ausbildung kann man zwar alles was von der Spielart ähnlich ist recht schnell lernen, dazu zähle ich übrigens auch den Maple Leaf Rag, doch Boogie Woogie zu spielen ist etwas anderes. Den Maple Leaf Rag kann man mehr oder weniger so vom Blatt spielen wie er dasteht. Es hört sich nach etwas an, auch in den Ohren derer, die etwas von Musik verstehen.
Beim Boogie Woogie sieht die Welt wie angedeutet ganz anders aus. Es ist eine völlig andere Spielweise notwendig. Das Festklammern an den Noten wie man es von der klassischen Musik kennt bringt hier überhaupt nichts. Damit meine ich nicht, dass man beim Boogie Woogie gezwungenermaßen improvisieren muss, vielmehr meine ich damit, dass Noten von Boogie Woogie Stücken, die Betonung und den Rythmus in keinster Weise abbilden. Man kann sich nicht einfach an Tönen, Legato, punktierten Noten, Achteln oder Triolen festhalten. Boogie Woogie kommt allein aus dem Körper heraus, man muss das Feeling fest in sich drin haben. Und genau das lernt man mit 32 nicht mehr so schnell als mit 15. Ob man es überhaupt noch lernen kann weiß ich nicht. Darauf setzen würde ich jedenfalls nicht.
Unterm Strich habe ich in den letzten Jahren vermutlich mehr Klavier gespielt und effizienter geübt als in der gesamten Kindheit und Jugend. Besessen von dem Gedanken, mal einen echten Boogie Woogie raushauen zu können. Ein anspruchsvolleres Boogie Woogie Stück kann ich aber bis heute nicht. Es ist wie in diesem Thread bereits geschildert wurde. Man kann den Boogie Woogie im Prinzip fehlerfrei und in der richtigen Geschwindigkeit spielen, nach etwas anhören tut es sich aber nicht. Ich habe ein Notenbuch, dem eine CD beiliegt, auf der die Stücke eingespielt wurden. Der Pianist spielt die exakt gleichen Noten wie ich, es sind dennoch zwei verschiedene Lieder. Während man beim richtig gespielten Boogie Woogie fast von alleine zu tanzen beginnt, hört sich meine Version wie von jemand an, der gerade erst angefangen hat Klavier zu spielen oder von Musik nicht viel versteht. Wenn ich klassische Stücke spiele, habe ich diesen Eindruck nicht.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Klassik und Boogie Woogie zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. Weder kann man durch Erlernen klassischer Musik, Boogies spielen, noch andersrum. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass einem die klassische Ausbildung sogut wie gar nichts bringt, wenn man darauf abzielt ein Boogie Woogie oder Jazz Pianist zu werden. Man kann auch genau so gut gleich mit Boogie Woogie anfangen können. Man hätte dann zwar Schwierigkeiten klassische Stücke zu lernen, aber wenn einem die klassische Musik in den Anfangsjahren schon generell nicht zusagt, ist davon auszugehen, dass das grundsätzlich auch so bleibt. Um wirklich flexibel zu sein, müsste man in der Kindheit wahrscheinlich mehrere Spielarten lernen. Die Klassik wäre dann halt ein Teil von 20% oder so.
Mit meinem Beitrag oder dieser kleinen Geschichte möchte ich andere dazu ermuntern, nicht nur auf andere zu hören, wenn es um dieses Thema geht. Spielt was ihr spielen wollt. Spielt nicht Jahre lang Klassik, nur weil man euch einredet, dass man mit einer klassischen Ausbildung sich in allen anderen Bereich leichter tut. Das ist zwar nicht generell falsch, aber für Musikrichtungen, die sich grundsätzlich von der Klassik unterscheiden, nützt es leider wenig bis garnichts. Ich kenne kein klassisches Lied, bei dem man die Technik die man speziell für Boogie Woogie haben muss, lernen könnte.
Sollten übermotivierte Eltern zufällig hier reinschauen, dann lasst eure Kinder einfach spielen was sie möchten. Seid froh, dass überhaupt ein Instrument gelernt wird. Andernfalls werden es euch die Kinder eines Tages vorhalten, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht aussprechen werden. Was würde es auch nützen. Der Zug ist dann so oder so schon abgefahren.
Soweit die Meinung von jemand, der zu diesem Thema aus eigener Erfahren berichten kann.