Torstens Meinung, sich übungshalber immer wieder mal Intervalle vorzustellen und zu singen sei besser, als sich aus der Konserve zu berieseln, teile ich. Die aktive Auseinandersetzung mit der Aufgabe bewirkt erfahrungsgemäß einen größeren Lerneffekt.
turkos Hinweis auf das "Körpergedächtnis" finde ich gut.
Je nach dem, auf welche Art und Weise man das Musizieren übt (singen nach erinnerter Melodie, nach Gehör, vom Blatt, Instrument vom Blatt, nach Gehör, nach erinnertem Klang spielen), schult man völlig verschiedene Kettenreaktionen, bei denen die motorische Reaktion (jedwede Art von großer oder kleiner "Muskelaktion" inclusive Stimmbänder) stets eine wichtige Rolle spielt.
Ein paar Gedanken
1. singen nach Gehör
Ein Lernprozess, der bereits beim Säugling beginnt, wenn er auf das "Dudeldei" seiner Umwelt reagiert.
Ein Kind, auf dessen natürliche Stimmlage eingegangen wird (viele Erwachsene heben instinktiv ihre Stimme deutlich an, wenn sie sich mit einem Kleinkind beschäftigen), kann seine ersten kleinen Melodien durch Nachahmung lernen, bevor es die ersten Worte klar verständlich spricht. Gehörter Ton und gesungener Ton werden beim Kleinkind reflexartig / beim Gesangsschüler gezielt aufeinander abgestimmt, sofern der gehörte Ton den anatomischen Möglichkeiten des Singenden entspricht.
Intervalle sauber singen ist wegen der verschiedenen Stimmsysteme Definitionssache und in der Praxis im Wesentlichen das Ergebnis solider Gehörschulung und einer dadurch erzeugten Klangvorstellung. Will man Intervalle singen lernen, muss man sie als erstes nachahmen lernen. Dabei trainiert man systematisch die Spannungswechsel der Stimmbänder. Um gehörte Intervalle wiederzuerkennen, gleiche ich das Gehörte mit kurzen Motiven (gebrochene Klänge) ab. Zu einem Intervall passende Liedanfänge sind dabei mMn eine bessere Hilfe, als ein ganzes Lied.
2. singen nach Erinnerung oder spontaner Klangvorstellung
Ein mehr oder weniger bewusster Akt, der voraussetzt, das Klänge oder Melodien auf irgendeine Art und Weise "im Kopf" sind.
Das funktioniert vermutlich ähnlich, wie das Singen nach Gehör. Nur dass der Ton nicht von außen vorgegeben wird, sondern "in einem" ist. Ich hatte eine Studienkollegin, die das beim besten Willen nicht hinbekam. Ihr fehlte dazu schlichtweg die Fähigkeit, einen Ton aufzunehmen und nachzusingen. Es kostete uns beiden viel Geduld und verlangte ihr extrem hohe Konzentration ab, bis sie ihre Stimme steuern konnte. Über viele Wochen geduldiges Training führte langsam zu immer besserer Kontrolle der Stimme. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, das das spontane, mühelose Treffen der Töne beim Singen im hohem Maße mit "Körpergedächtnis" zu tun hat.
Das gezielte Singen von Intervallen setzt voraus, das man sich eine Vorstellung davon erworben hat, wie die Intervalle klingen und wie sie sich in den verschiedenen Tonlagen in der Kehle anfühlen. Ein Repertoire von Liedanfängen ist dafür eine gute Hilfe. Ebenfalls hilfreich ist ein Akkord, der ein großes Intervall in kleinere gut singbare Intervalle aufteilt. Die funktioneren wie Stützpfeiler einer großen Brücke. Beispiele: Quinte - Brücke: Tonika-Dreiklang, Sexte - Brücke: verdrehter Quart-Sext-Akkord Da fällt mir immer das Lied "
Heiligste Nacht") ein.
3. singen nach Noten
Eine Fähigkeit, die voraussetzt, dass man aus den Noten nicht nur Töne, sondern Bezugsetzungen (Intervalle) und melodische Bewegungsabläufe herauslesen kann. Einen einzelnen Ton exakt ansingen, kann nur jemand der ein absolutes Gehör hat. Für das Singen ist ein absolutes Gehör nicht notwendig. Wer viel "wie von allein" vom Blatt singt, merkt erst dann, dass die Noten in ihm die Erinnerung an eingeübte "Floskeln" wecken, wenn er über eine ungewohnte Abfolge von Noten stolpert. Singen nach Noten ist ein eine Art Kettenreaktion 1. Noten (! immer mehrere im Zusammenhang) sehen 2. Bezug zum Grundton erkennen 3. Bezüge in der Tonfolge / Intervalle erkennen 4. es entsteht eine Tonvorstellung oder wird erinnert 5. gemäß Tonvorstellung singen
Beim Musizieren wird die Angelegenheit deshalb komplizierter, weil man erst einmal das Instrument beherrschen lernen muss. Und das lernt man nicht durch Singen. Allerdings ist eine mit Hilfe des Singens erworbene Gehörschulung von großem Vorteil.
Beim Musizieren beobachtete Herangehensweisen an das Instrument:
1. musizieren ohne Kontrolle über die entstehende Musik
Ein Akt, bei dem mehr oder weniger bewußt mit dem Instrument experimentiert wird. Man macht Spielbewegungen, ohne eine bestimmte Klangvorstellung zu haben. Je nach dem, wie intensiv man dabei auf den Zusammenhang zwischen Bewegungsablauf und der entstehenden Musik achtet, resultiert aus den dabei gemachten Erfahrungen ein Lerneffekt. Die "Kettenreaktion" wird bei jedem ein wenig anders aussehen und hängt auch vom Alter ab. Bei Kindergartenkindern konnte ich schon oft beobachten, wie sie jedem einzelnen Ton nachlauschten, den sie auf dem Klavier griffen, auf dem Metallophon anschlugen oder auf der Mundharmonika angeblasen haben. Wenn man sie ganz in Ruhe ausprobieren lässt, entwickeln sie dabei die später so wichtige Koordination von Klangvorstellung und entsprechender Bewegung, ohne sich Gedanken über Intervalle zu machen. Die Spielbewegung folgt der Klangvorstellung ganz instinktiv. Ältere Schüler haben in Gegenwart von Zuhörern oft Hemmungen, die Hände einfach mal laufen zu lassen, entweder aus Angst, etwas "falsch" zu machen oder weil sie nicht recht wissen, wie sie es angehen sollen. Ihnen fehlt diese Koordination von Klangvorstellung und Bewegung. Möglicherweise fehlt ihnen auch die Fähigkeit, eine spontane Klangvorstellung zu entwickeln, die ich mal "musikalische Fantasie" nenne. Je nach Temperament (unabhängig vom Alter) "tobt" sich jemand vielleicht aber auch ganz spontan aus, ohne im nächsten Moment erinnern zu können, was er gerade gespielt hat. In diesem Fall war die Spielbewegung völlig unkontrolliert, wurde nicht "gespeichert" und von der entstandenen Musik bleibt nur eine vage Erinnerung. Eine bewusste Einsicht in Intervalle oder Akkordfolgen entsteht dabei eher nicht.
2. musizieren nach Erinnerung oder spontaner Klangvorstellung
Eine Fähigkeit, die voraussetzt, dass Bewegungsabläufe und Klangvorstellung infolge mehr oder weniger umfangreicher Lernerfahrung aneinander gekoppelt wurden.
Die Methode, Melodien als Wege im Tonraum zu verstehen / erleben / spielen, eröffnet in diesem Zusammenhang neue Möglichkeiten frei ohne Noten zu musizieren. Ohne diese Methode, wird Musik oft als Abfolge von Intervallen oder gar einzelnen Tönen verstanden, die mit Hilfe der Harmonielehre akademisch erläuterbar, aber auf diese Weise unter Umständen nur schlecht zu merken sind. Spielt man auswendig, laufen die Hände infolge hartnäckigen Übens oftmals irgendwie von allein. Die Ohren kontrollieren und wenn etwas falsch klingt, erfolgt die Korrektur entweder im Reflex oder das Spiel bricht abrupt ab und der Spieler muss reflektieren, wie der Fehler zustande gekommen und zu korrigieren ist. Das Grundprinzip "nicht Töne spielen, sondern Wege" verändert die Perspektive beim Erinnern, Lernen oder "Ausdenken"/Komponieren /Improvisieren völlig. Sieht man eine über mehrere Stufen in Sekundenschritten aufsteigende Tonfolge als Weg nach oben, einen Quartsprung nach unten und zurück als Rückschwung, zwei aufeinander folgende Terzen als Doppelsprung oder Doppelfall (es können auch andere Intervalle sein), usw. ... dann erschließen sich sinnstiftende Zusammenhänge, die man sich ganz anders merken und viel besser mit Klangvorstellungen koppeln kann. Wie gut einem das auf dem ein oder anderen Instrument gelingt, hängt davon ab, wie häufig man sich mit dem Instrument beschäftig und wieviele "Module" abrufbar sind. Ist also Trainingssache. Die hohe Kunst der Improvisation nach vorgegebenen Tonsatzregeln geht über das Musizieren nach Erinnerung oder spontaner Klangvorstellung weit hinaus. Letzteres sehe ich eher als eine blitzschnelle Reaktionsfolge von 1. Klangidee/-Erinnerung blitzt auf 2. zugehöriges Bewegungsmuster wird aktiviert 3. Ergebniskontrolle 4. falls notwendig > Korrektur. Ist kein Bewegungsmuster sicher abrufbar, wird probiert, bis es passt und man versucht, sich das neue Bewegungsmuster zu merken.
3. musizieren vom Blatt
ist im Idealfall eine erweiterte Reaktionsfolge von Punkt 2. Es ist aber durchaus möglich, dass jemand auf die gelesenen Noten rein motorisch reagiert und gar nicht realisiert, was er da spielt.
Der Idealfall:
Man sieht die (völlig fremden) Noten, "hört" innerlich im Voraus was kommt, erkennt gleichzeitig die harmonischen Zusammenhänge sowie melodische Bewegungen > Klangvorstellung und visuelle Wahrnehmung der Note provozieren die notwenige motorische Reaktion am Instrument > das Gehör kontrolliert, ob die Musik (Tonhöhen, Ausdruck und Artikulation) wie erwartet klingt und steuert notwendige Korrekturen.
Fließendes vom Blatt spielen verlangt mehr als eine systematische Eroberung des Tonraums. Es setzt voraus, das bereits geübte musikalische Figuren und Wendungen blitzschnell (wieder-)erkannt werden. Je ungewohnter die Musik bzw. je mehr unbekannte Elemente die Musik enthält, um so mehr Übungszeit muß man für ein Musikstück investieren. Liest man beim Üben die Noten unentwegt konzentriert mit, verbessert sich in den zuvor unbekannten Passagen die Auge-Hand-Koordination mehr und mehr. Irgendwann "buchstabiert" man nicht mehr die einzelnen Noten, sondern liest "Einheiten" und die Hände reagieren automatisch. Hat man diesen Leistungsstand erreicht, sind die Noten zur Erinnerungsstütze geworden. Welche Bedeutung dabei das Layout der Noten hat wurde mir bei folgender Gelegenheit bewußt:
Ich hatte ein Stück so lange geübt, bis ich es in flottem Tempo spielen konnte. Die Noten las ich nur noch flüchtig mit und spielte verschiedene Passagen mit Blick auf die Tasten. An bestimmten Stellen hing sich der Blick dann wieder an die Noten. - - - Zeitsprung - - - dasselbe Stück, anderes Notenblatt mit völlig anderem Layout -> an den Stellen, wo ich vom Blatt spielen mußte, kam ich regelmäßig ins Stolperen. Also Noten im gewohnten Layout besorgt > promt lief alles wie gewohnt.
Spielt jemand mehrere Instrumente ist nicht gesagt, dass die Fähigkeit, auswendig, also nach Gehör oder Erinnerung/Klangvorstellung zu spielen bei jedem Instrument gleich gut entwickelt ist. Um Gehörtes und/oder Erinnertes nach Gehör spielen zu können, ist immer spezivisches Training am Instrument notwendig. Die Fähigkeit Intervalle, Akkorde und den Weg der Melodie erkennen und sich merken zu können ist zwar eine wichtige Grundlage, reicht aber nicht aus.
Früher spielte ich Mundharmonika ausschließlich nach Gehör. Als ich begann, mir unbekannte Lieder und Tanzweisen nach Noten zu spielen, fiel mir auf, dass ich mit diesem Instrument völlig anders auf Noten reagiere, als mit Klavier oder Flöte. Dieses Musizieren war eher mit Singen nach Noten zu vergleichen: Tonart klären und dann an der Tonika orientierend wie beim Singen nach Klangvorstellung spielen. Dabei lese ich "transponierend". Weiß nicht, wie ich das sonst nennen soll. Also egal welche Tonart die Noten anzeigen, ich spiele immer gleich, also mit demselben Atemschema. Dabei ist es völlig egal, in welcher Tonart die Mundharmonika klingt.
Komplexes und sehr interessantes Thema.
Gruß
Lisa