Hallo zusammen,
wow, was für eine engagierte Diskussion. Das Thema "Darf man heute noch tonal komponieren?" ist ein absoluter Evergreen, auch in meiner eigenen Vergangenheit. Das einzige was diese Diskussion stellenweise vermissen lässt ist Toleranz, Höflichkeit und die Gewährung einer eigenen Meinung... "Darf man heute noch tolerante Forenbeiträge schreiben?" - Ich denke schon!
Aber zum Thema:
Ich kenne diese Diskussion auch aus zahlreichen Gelegenheiten und eine erschöpfende Antwort wird es darauf sicher nie geben. Dem Großteil meiner Vor-Schreiber stimme ich absolut zu: "Wenn Dir danach ist - sicher!"
Mein eigener Kompositionsprofessor erhob seinerzeit die Atonalität zum aboluten Dogma, was zahlreiche Diskussionen zwischen uns hervorrief, die ich aber als durchweg positive Erfahrung empfand, da sie meine eigene Meinung wenn schon nicht änderten doch wenigstens auf einen Prüfstand setzten und mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema brachte - obwohl ich mich selbst nie als tonalen Komponisten bezeichnen würde.
Als ich einmal in einem durchweg "atonalen" Liederzyklus die Textpassage "möcht in schön're Welten langen" mit Gefällen aus versteckten verminderten Akkorden begleitete, war mein Professor von dieser Passage durchaus angetan.
("Schuberts Gebet" aus "Das Band des Möbius"; Thorsten Singer)
Hitzig wurde die Diskussion letztendlich als das Thema Philip Glass aufkam, dessen Musik ich durchaus für bahnbrechend hielt und halte. Einen modernen Komponisten dürfte das wohl nicht passieren. Meinem Argument, daß aber Szenen aus Satyagraha dem von Berlioz in "Brennt die Opernhäuser nieder" geforderten Musiktheater (während der Performance entstehendes Bühnenbild, Gesang ist ein Instrument - nicht Text und Noten, was schon durch die Verwendung von Synskrit als Sprache in Glass' Oper geschieht etc.) näher kommt, als alles, was ich von Hölszky und Co kenne, wusste er auch nichts überzeugendes zu entgegnen.
Letztenendes ist das Empfinden von Tonalität (und das ist es, was ich aus dem Artikel der NZfM sehr wohl entnehme) ein Produkt unserer empirischen Hörerfahrung ist. Ich persönlich empfinde Alban Bergs Opern als für meinen Geschmack durchaus sehr tonal. Das Empfinden von Graden der Tonalität gründet sicher in der eigenen Hörerfahtung und damit der diesbezüglichen Prägung des eigenen Gehörs. Es kommt eben aber auch auf die Definition an. Reden wir von einer Analysierbarkeit in klassischer traditioneller Harmonielehre oder ist bereits ein Konstrukt um ein tonales Zentrum - egal wie komplex - tonal?
Zu den bisherigen Beiträgen:
Ich kann erhlich gesagt nicht verstehen, wer hier eine "Politisierung" im Eingangsartikel findet...
Zitat von Hartmut: In Deutschland scheint dies auch mit der Geschichte zusammenzuhängen: Während in der Nazizeit atonale Musik als "entartet" galt, scheint nach 45 die Sicht ins andere Extrem umgeschlagen zu sein: Nun wird tonale Musik in den Untergrund gedrängt. Wurden in den 30ern atonale Komponisten als "böse Kommunisten" angesehen, stehen heute tonale Komponisten tendenziell unter "Faschismusverdacht", was besonders auf Adorno zurückgeht.
Das enthält einen Ansatz, den auch schon verschiedene Autoren der NZfM und auch Dibelius meiner Erinnerung nach in "Moderne Musik I&II" verfolgten: Der zweite Weltkrieg hat eine Schneise in die Musik geschlagen, indem plötzlich die Komposition und das Hören getrennt wurden, nicht zuletzt weil sich Komponisten trotz der schwierigen Verhältnisse weiter entwickelten und weiter Musik schrieben während die Aufführung der Musik durch Krieg und Kriegsfolgen quasi zum Erliegen kam. Als das breite Publikum nach "dem Gröbsten" wieder an der Musik teilnahm, war diese bereits an einen Punkt weiterentwickelt, denen der Zuhörer nicht mehr folgen konnte, weil er diese Entwicklung selbst nicht miterlebt hatte. Ich halte diesen Punkt wenn schon nicht für alleinverantwortlich dann doch wenigstens schon für maßgeblich daran beteiligt, warum diese zwei Lager heute überhaupt in so markantem Maße existieren.
Sicher ist auch die Kommerzialisierung der Kunst (das kann man wertend oder nichtwertend betrachten) für diese Entwicklung als Folge verantwortlich:
Zitat von Hartmut: So jemand hat nie die Chance, einen bedeutenden Kompositionspreis - etwa der Länder - zu gewinnen oder Fördergeld zu erhalten: Tonale Musik gilt nicht als förderungswürdig! Warum eigentlich nicht?
Ich finde das in seiner dogmatischen Praktizierung auch nicht wirklich "offen für Neues" - aber es ist eben pekuniärer Alltag. Solange sich mit einer weiteren Verwurstung von Mozarts Zauberflöte mehr verdienen lässt als mit Ligetis Requiem wird es auch nötig sein, atonale Musik stärker zu fördern, da sie von alleine (von wenigen Ausnahmen abgesehen) sonst nie den Weg in größere Konzerthäuser fände. Und die eigene Integrität wird man immer auf die Probe gestellt finden, wenn die Entscheidung ansteht: Schreibe ich, was das Publikum hören möchte oder warte ich auf das Publikum, das hören möchte, was ich schreibe? In beide Richtungen kann man die unterschiedlichsten Erfahrungen machen.
Ich persönlich habe erlebt, daß ein Stück drei Wochen vor der Uraufführung der Zensur anheimfiel (Ja, Zensur in deutschen Hochschulen... da gruselts mich wirklich). Begründung: Das Publikum würde das nicht verstehen. Zur Erklärung: Zum Schubertjahr verfasste ich ein Kammermusikstück mit dem Titel "Schubert: ein Kindergarten", in dem es um die Magie des Einfachen und Liedhaften in Schuberts Werken ging. Die Zensur schlug zu, als das Stück fertig war und damit endete, daß ein aufziehbarer Spielzeugaffe mit Zymbeln über die Bühne rennen sollte (ich mag das Stück noch immer...
).
Andererseits habe ich schon erlebt, daß beim überraschenden Besuch der geistlichen Hausherren einer Kirche bei der Generalprobe von "Joannestriade" selbiges deren Begeisterung fand, obwohl es ausschließlich aus Textpassagen eines tyrannischen Gottes des alten Testamentes bestand (ist eben keine gute Idee, einen Atheisten um einen Beitrag zu einem geistlichen Konzert zu bitten).
Ich habe entschieden, daß ich Musik zum Ausdruck meines Ichs schreibe und nicht für ein Publikum. Und das, lieber Hartmut, würde ich Dir ebenfalls empfehlen.
Zitat von Günter Sch: Ein freund von mir liest korrekturen für einen bekannten verlag, ich fand ihn verzweifelt über eine riesenpartitur brütend, eine immense fleißarbeit mit genauester angabe von vortragsnuancen, während einige instrumente ffff bliesen, säuselten gleichzeitig andere im pppp, offenkundig schreibtischarbeit ohne jeden praktischen bezug. "Wer soll sowas spielen?" "Und wer soll es sich anhören?"
Ohje ohje... darf ich an den witzigen Antonio Rosetti alias Anton Rössler erinnern? Den hielt man auch für verrückt, weil er seinerzeit plötzlich so viele Dynamikzeichen in einem einzigen Stück, ja teilweise sogar für einzelne Töne andere und - grässliches modernes Zeug - sogar unterschiedliche gleichzeitig in verschiedenen Instrumenten verwendete. Heute finden wir's schön und für seine Zeit innovativ - aber bestimmt nicht verrückt:
Und da gebe ich
Flix und
Szrp völlig recht: Bezeichnungen wie
fffff bezeichnen sicher eher einen Gestus als die kompositorische Absicht, das Gehör von Musikern und Publikum zu schädigen. Niemand wird gezwungen, ein solches Stück auf den Spielplan zu nehmen und ganz bestimmt wird niemand gezwungen, solch einem Stück im Publikum beizuwohnen, wenn man darin keinen Sinn sehen kann. Meine beiden erwähnten Vorredner haben meiner Meinung nach recht: Wichtiger als die Erreichung einer bestimmten dB Zahl ist hier sicher eine nuancierte Abstufung der einzelnen Dynamikbezeichnungen. Ich habe schon Musiker erlebt, die es schafften verschiedene Dynamikangaben nur durch Tonfarbe und Timbre zu artikulieren, ohne daß sich die Lautstärke in ihrer dB Zahl verändert hätte... trotzdem konnte man die Lautstärkenangabe "empfinden".
Wirklich inspirierend fand ich allerdings auch:
Zitat von Maler: Die Komponisten haben also so ziemlich alles durchprobiert. Und eigentlich ist es egal, ob man fragt: Darf man noch tonal komponieren? oder fragt: Darf man noch atonal komponieren? Die Frage ist eigentlich eher: Kann man, ob tonal oder sonstwie, überhaupt noch etwas komponieren?
Da hast Du völlig recht... wir sind vielleicht nicht mehr weit davon entfernt, daß "tonal out ist". Dürfen wir uns auf neue Dogmen freuen? Wie ich bereits oben erwähnt habe, kann ein wohlplatzierter tonaler Akkord eine wirklich überraschende Wirkung erzielen. Und wenn man sich den achso kultivierten, elitären und artifiziellen Meinungen beugt, verkrampft atonal sein muß, verzweifelt etwas Neues erfinden muß, wo man nicht mal mehr etwas "finden" kann, weil scheinbar alles gesagt ist, bleibt vielleicht nur noch Schweigen?
Aber da wären wir schon wieder bei Cages 4''33... auch das war schon da.
Bleibt nur Resignation?
Oder setzen wir uns kompositorisch damit auseinander?
Seit ca 9 Jahren komponiere ich konsequent nebenher an einer Oper, an der sich bereits alles mehrmals geändert hat... Instrumentation, Passagen des Libretto, Tonmaterial, Themen und Sequenzen... nur der erste Satz der Oper, der aus eben einer solchen Resignation entstanden war, aber letztendlich mir als Impuls für meine eigene Kreativität diente ist seit der ersten Minute der Werksgenese stehen geblieben... er ist ein Satz aus W. Schwabs "Endlich tot endlich keine Luft mehr - ein Theaterzernichtungslustspiel" und bedeutet für mich musikalisch, was Beckets erster Satz aus "Warten auf Godot" für das Theater dadaistisch bedeutete:
Die Musik soll ausgehen wie ein falsches Licht!
In diesem Sinner: Verzweifelt - oder verzweifelt nicht. Aber hört nicht auf, dies dann in Musik umzusetzen... ob tonal, atonal, modal oder als Geräusch!
Liebe Grüße
Euer CompagEL / Thorsten Singer