Ich muss jetzt mal eine Lanze für das Agen brechen: Ich finde das optisch durchaus ansprechend. Es gibt Gitarren, zu denen passt es mehr, zu anderen weniger. Niemals würde ich mich für eine gerelicte Düsenberg aussprechen, die ja optisch so schon extrem viel her macht! Aber gerade bei Fender-Gitarren, insbesondere Strats, die man schlichtweg sehr (vllt sogar: zu) oft sieht, gewinnen Gitarren für mich durchaus etwas an Charakter, wenn sie sich von ihren "Schwestern" etwas abheben, sei es durch ein interessantes Finish, ein unübliches Binding (bei Strats nun nicht gerade) oder eben durch die bekannten Annäherungsversuche mit Unterarmschweiß, Gürtelschnalle, Treppenstufen, ...
Sehr oft fällt der Satz "Ich mach mir meine Kratzer lieber selber rein" - den Ansatz verstehe ich ja, aber mal ernsthaft: Wessen Gitarre sieht wirklich aus wie "30 Jahre lang jeden Abend in Eckkneipen und Jazz-Clubs im Einsatz" anstatt einfach nur wie "hat er wohl mal nicht richtig aufgepasst"? Die wenigsten von uns haben über einen ausreichenden Zeitraum ein und dasselbe Instrument im Einsatz und selbst dann sieht es noch nicht automatisch so aus, wie man sich das immer so vorstellt! Von daher: Wenn es gut gemacht ist, warum nicht mal zu einer etwas abgeschrappten Strat greifen? Ich finde das hat was... Außer Frage steht, dass es noch viel mehr hat, wenn man die Kratzer wirklich über die Jahre selbst reingebracht hat!
Agen hat aber natürlich auch Grenzen. Rory Gallaghers Strat beispielsweise ist Kult, aber es ist eben Rorys Strat. Und keine andere Gitarre (von Signatures will ich jetzt nicht sprechen), muss in ähnlichem Maße künstlich auf alt gemacht werden, das wirkt absolut übertrieben! Sowas sollte in Maßen gemacht werden und realistisch aussehen. Was z.B. Vintage so vom Stapel lässt, ist natürlich eine absolute optische Abwertung! Dann lieber sein lassen! Genauso wenig verstehe ich es, warum die künstlichen Kratzer zum Teil mit Klarlack überzogen werden. "Echte" Kratzer dürfen dann also nicht mehr rein, oder wie?
Ich kann mir aber, von alle dem mal ganz abgesehen, nicht vorstellen, dass Relicen eine hörbare Auswirkung auf den Klang einer E-Gitarre hat. Session-Ollis Videos sehe ich sehr gerne, häufig auch nur zum Zeitvertreib, aber was er so von sich gibt, sollte man mit Vorsicht genießen; der Gute glaubt, die Flöhe husten zu hören, und hat Soundanforderungen, die ich nicht mehr für realistisch erachten kann! Ich nehme ihm nicht wirklich ab, genau hören zu können, welche Soundunterschiede jetzt auf den Halsübergang, welche auf die Decke, welche auf das Tailpiece, etc. zurückgehen - diese Unterschiede gibt es, aber ich glaube keinem, dass er das so differenziert zu hören vermag!
Übrigens besitze ich keine geagte Gitarre, würde mir aber eine zulegen, wenn der Rest passen würde und das Geld da wäre!
Um nochmal kurz zusammenzufassen: Solange es gut gemacht ist, zur Gitarre passt und nicht übertrieben wird, kann ich mich absolut für Aging aussprechen!