Blues-Klänge und Jazz-Klänge im Widerspruch?

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Jetzt da ich beginne, mich für Jazz-Blues zu interessieren, verblüfft es mich eigentlich, dass die Jazz-Klänge 9, 13 und j7 mehr dem ionischen System des alten Abendlandes zu entstammen scheinen als der Dur-Moll-Vermischung des Blues mit #9 und b7 - obwohl sich doch der Jazz aus dem Blues entwickelt haben soll - könnt Ihr das aufklären?

In der Praxis finde ich es jetzt einerseits geschmacklich gewöhnungsbedürftig und andererseits gar nicht so leicht überzeugend umzusetzen, die beiden Klangwelten im Jazz-Blues zu mischen. Bisher habe ich eben immer die Bluesskala als Universalskala eingesetzt und nun kommen mit den Chordscales ganz neue, ungewohnte Klänge dazu. Zwar ist das wie eine Befreiung, aber dennoch erlebe ich die beiden KlangWelten zwischendurch immer mal wieder als nicht so gut zusammen passend - in welcher Hinsicht eigentlich? Stilistisch vermute ich, denn erstmal klingt es für mich teilweise einfach nur, öh, unpassend, ohne dass ich genau weiß weshalb. Hat einer von Euch diesen Entwicklungsschritt schon hinter sich und kann etwas dazu sagen?

Als Drittes habe ich noch eine weitere Vermutung, zu der ich gern Eure Meinung hören würde. Ich habe nämlich den Verdacht, dass die von mir empfundene Spannung zwischen der "Bluesskala als Universalskala-Methode" und der Chordscale-Methode nicht nur aus den unterschiedlichen Klängen resultiert.

Könnte es sein, dass die Universalskala-Methode die Aufmerksamkeit viel mehr auf den Melodieverlauf [in die Horizontale :)]lenkt, während die Chordscale-Methode uns demgegenüber mehr auf den harmonischen, vertikalen Zusammenhang achten lässt? [Nachtrag: Turko hat mich dankenswerterweise auf Sikora verwiesen, der das auf S. 207 ja schon geschrieben hat!]

Gruuuß,
Heiner
 
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Hallo Heiner,

nachdem wir ja schon kurz das Vergnügen hatten, dieses Feld gemeinsam zu bearbeiten, darf ich hier nun auch meinen Senf dazu geben:

Ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet, das sei vorweg gesagt. Aber wenn ich mir einen "archaischen Blues" so anhöre (oder ihn mir vorstelle), dann ist er ja fast mehr "Sprechgesang" als Musik. Allerdings ein Sprechgesang mit einer standardisierten Form (Blues Form), die fast so die Funktion eines Versmaßes hat, und mit einer standardisierten Melodik=Tonauswahl und Tonbildung/Phrasierung. Das harmonische Gerüst stand, glaube ich, anfangs noch sehr im Hintergrund bzw. war überhaupt noch nicht entwickelt. Es liegt auf der Hand, daß das eine mehr "horizontale" Herangehensweise ist. Es zählt die (einheitliche) Melodik als Ganzes, und nicht ein (noch immagiärer) Akkord am Beginn jeder neuen Vers-Zeile ...

Es liegt außerdem auf der Hand, daß sich gewisse (musikalische) "Konflikte" ergeben, wenn man versucht, diese "außereuropäische" Herangehensweise in Melodik und Phrasierung und Tonbildung mit weitgehend europäischer Harmonik zu unterlegen. Schon mal angefangen bei der Tatsache, daß eine einzige BluesScala bedenkenlos über alle Stufen und Funktionen drübergesungen/-gespielt wird, ohne Rücksicht auf Verluste und Konflikte. Aber "historisch" ist das logisch, weil ja die Melodik, der Gesang, die Lyrik, ZUERST da war und daher Priorität genießt ...

Aber genau DAS (nämlich das Unterlegen) geschah, und genau DAS macht auch die (so reizvolle) Spannung im Blues aus.

Schon im New Orleans-, Dixieland-, und Chicagostil hat man den Blues geliebt und genutzt, und ihn verbogen und verzerrt, um ihn an die jeweiligen Bedürfnisse in der Stilistik anzupassen. Und umsomehr in der Bebop-Aera und danach. Die Harmonien wurden immer mehr und immer komplexer, und irgendwann (ich weiß nicht, wann) genügte es einfach nicht mehr, über all diese Akkorde eine einzige Bluesscala drüberzuspielen als Solist. Man wollte die Möglichkeiten dieser "anderen" Harmonik ja voll auskosten. Natürlich führt das zum Teil weg von der "horizontalen" Melodik des Ur-Blues ...

Die Meisterschaft besteht nun darin, beides zu verbinden, auf die Komplexität einer "modernen" Harmonik Rücksicht zu nehmen, ohne die Tradition und Stärke der BluesMelodik aufgeben zu müssen.

WIE das im Detail gelingt, weiß ich nicht, bzw. kann es keinesfalls in Worte fassen. Insofern habe ich wohl das Thread-Thema verfehlt ... aber ohne Zweifel klingt ein Blues von John Coltrane noch immer bluesig, wie verrückt auch immer im Detail seine Soli harmonisch sein mögen ...

Zu (fast) diesem Thema habe ich eine Internetseite gefunden:
http://www.jazzzeitung.de/jazz/2008/02/dossier.shtml

Ein Zitat von dieser Seite:

Die harmonische Erweiterung bleibt nicht ohne Folgen für die Tonalität des Bebop-Blues. Der frühe Blues kannte nur eine einzige, durchgängige Tonart. Die harmonische Differenzierung und Erweiterung im Bebop erlaubt dagegen nicht nur melodische Phrasen, die auch im Swing noch unbekannt waren, sondern führt den ursprünglich pentatonischen Blues durch die ganze Zwölftonskala. Dass er trotzdem immer wieder nach „Blues“ klingt, verdankt sich einem delikaten Balance-Akt zwischen dem abstrakten 12-Takt-Harmonieschema und einem ständigen Rekurs auf die traditionelle Blues-Tonalität. Ein beliebter Trick ist dabei, einen Dominantseptakkord (I-III-V-VII) im harmonischen Durchgang als „frei schwebende“ Bluesskala (III-V-VI-VII) aufzufassen. Den Beboppern gelingt es so letztlich, jeden Ton zur „blue note“ zu machen: Die verminderte Quinte („flatted fifth“) führt auf technisch-rationalem Weg zu einer chromatischen Bluesskala, wie sie in „Birks’ Works“ oder „Blue Monk“ vorgeführt ist. Das haben sich schon die Bigband-Arrangeure der 50er-Jahre reichlich zu Nutzen gemacht.

LG, Thomas
 
Mann, das ist ein toller Artikel!

Es gibt dort einen Satz, den ich nicht verstehe:

Ein beliebter Trick ist dabei, einen Dominantseptakkord (I-III-V-VII) im harmonischen Durchgang als "frei schwebende" Bluesskala (III-V-VI-VII) aufzufassen.

Wie ist das gemeint - wie funktioniert dieser Trick?

Gruuuß,
Heiner
 
Ich verstehe ihn auch nicht ... obwohl ich jetzt seit geraumer Zeit darüber nachdenke ... ich versuche, ihn (den Satz) irgendwie mit meinen bisherigen Jazz-Blues-Hörefahrungen zu verknpüfen ... aber da LÄSST sich nix verknüpfen ...

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr beschleicht mich der Verdacht, daß dieser "Trick" in Wahrheit gar nicht so trickreich ist, und er einfach meint, daß man auf den jeweiligen DomSeptakkorden (wie VI7, also z. B. V7/II in Takt 8 etc. ) diese Changes mit Bluesskalen auf diesem jeweiligen Grundton ausspielt ...

Aber ich hoffe fast, daß ich mich irre, und daß anders, tiefgründigeres gemeint sei ...

LG, Thomas
 
Das passiert immer wenn "nicht-Musiker" über Musik schreiben. :D
Wenn er schreibt "Ein beliebter Trick ist dabei, einen Dominantseptakkord (I-III-V-VII)" meint er mit den röm. Zahlen nichts anderes als Grundton, gr. Terz, Quint und kleine Sept des Dom. Sept Akkordes.
Und wenn er schreibt
"frei schwebende" ist das für mich Gefasel, wie vieles anderes in diesem zum Teil nur noch aus historischer Sicht lesenswerten Artikel. Der Typ ist kein Musiker!
Weiterhin schreibt er
"frei schwebende" Bluesskala (III-V-VI-VII). Damit meint er nun gr. Terz, Quinte, gr. Sexte und kleine Sept eines Dom.Sept Akkordes. Diese Tonfolge stellt aus anderer Sicht gesehen einen Ausschnitt einer Bluestonleiter dar, und zwar, 1, b3, 4 und b5.
Wo ist da der Trick? Diese Tonreihe ist vielmehr als Teil der Kumoi anzusehen, die natürlich bei jedem Dom.Septakkord mit mixolydischer oder MM7 Chordscale auftritt.

Heiner. Über den Blues spielt man nicht nur EINE Bluestonleiter. Es ist vielmehr so, dass an bestimmten Stellen bestimmte Töne der Bluestonleiter passen und an anderer Stelle eben nicht. Was im Jazzblues passiert, ist ein eintauchen in Sek.Dom's mit ihren rel.II-7 und entsprenchenden Tritonussubtitutionen. Auch diese Erweiterungsakkorde können gut klingen mit der Bluestonleiter. Aber es geht eben nicht jeder Ton zu jeder Zeit. Gut klingen tun diese Akkorde gewiss mit ihren dazugehörigen Chordscales. Wenn man sich nur auf diese beschrängt, spielt man praktisch die Changes aus. Wenn man sich nur auf die Töne der Bluesscale beschränkt, werden die Changes im melodischen Sinne nicht hörbar gemacht.
Bau doch mal das Original-Blues-Schema sukzessiv aus.
Also zunächst:

|| I7 |IV7 | I7 | I7 |
| IV7 | IV7 | I7 | I7 |
| V7 | IV7 | I7 | V7 ||

dann:

|| I7 |IV7 | I7 | I7 |
| IV7 | IV7 | I7 | V7/VI |
| II-7 | V7 | I7 | V7 ||


dann:

|| I7 |IV7 #IVo7 | I7/5th | I7 |
| IV7 | #IVo7 | I7/5th | V7/VI |
| II-7 | V7 | I7 | V7 ||


dann:

|| I7 I7/3rd |IV7 #IVo7 | I7/5th | rel.II-7 V7/IV |
| IV7 | #IVo7 | I7/5th subV7/III | III-7 V7/VI |
| II-7 | V7 | I7 V7/II | II-7 V7 ||

und so weiter...


CIAO
CUDO
 
Hallo Cudo,

schon geschehen und zwar hier. (Wobei ich die #IVo7 in Takt 2 noch nicht eingebaut habe.) Das ist momentan mein Arbeitsstück - Du hattest mir zuvor noch das Schema korrigiert.

Am Ende der Diskussion, die Tnomas und ich eigentlich allein geführt haben, hat Thomas mich auf die Stelle bei Sikora hingewiesen, in der er schreibt, dass man sich an die entstehenden Dissonanzen im Blues "gewöhnen" soll, weil sie gewollt seien (S. 206 ff.). Ich wollte Dich noch mal danach fragen...



Thomas - mir scheint, da ist wirklich kein Trick dabei, und Du hast Dich nicht geirrt :D

Gruuuuß,
Heiner
 

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Ich wollte Dich noch mal danach fragen...



Lieber Haiiiner,
dazu hat ja turko schon einiges gesagt. Wenn ich mir Dein Stück anhöre, kommen sehr viele Elemente zum Vorschein die mir persönlich nicht gefallen. Das mag unter anderem auch damit zusammen hängen, dass Du Dir Deine Play-Alongs selbst herstellst.
Die sind nämlich auch nicht das gelbe vom Ei. Sorry wenn ich hier so hart in's Gefecht ziehe, aber ich schreibe immer das was ich denke und möchte Dir hier nichts vormachen.

Jetzt geh mal bitte her und spiele über folgendes Play-Along eine RELAXTEN Blues. Das Play-Along beinnhaltet zwar die Urform, aber das tut insofern nichts zur Sache, da ich mal hören will, wie Du damit zurecht kommst.

Thomas - mir scheint, da ist wirklich kein Trick dabei, und Du hast Dich nicht geirrt :D
Er hat aber die röm. Ziffern anders interpretiert, oder?
 
'''''
 
Zuletzt bearbeitet:
Er hat aber die röm. Ziffern anders interpretiert, oder?

Ja, hat er. Bzw. haben sie ihn verwirrt, ehe er dann auch irgendwann mal draufgekommen ist, daß der Artikelschreiber wohl einfach die Dreiklangstöne irgendwie willkürlich benennen bzw. bzeichnen wollte ... aber auf sowas muß man ja erst mal kommen !! :)

LG, Thomas
 
Hi Cudo!

Hab den freien Vormittag für zwei Durchgänge Hausaufgaben genutzt:

Slow Blues In G

Erster Durchgang Blues Scale, zweiter Chordscales. Das Playalong von YouTube war qualitativ zu schlecht - ich habe ein anderes, ebenfalls sehr relaxtes gefunden - denke, Du wirst damit einverstanden sein.

Gruuuß,
Heiner
 
Hi Hainer,

Du hättest das von mir vorgeschlagene Video ruhig nehmen können. Es geht hier überhaupt nicht um Aufnahmequalität, sondern vielmehr um musikalische Gestaltung.

Ich glaube Dir nicht was Du spielst. Das kommt nicht von Innen raus. Du MUSST mitsingen. Du gliederst nicht, denkst nicht in Phrasenbögen (call, response) sondern spielst in einem fort. Wo sind die Pausen?
Außerdem sind sehr viele "falsche" Töne drin. Ja, die gibt es auch im Blues. Mit chordscale spielen hat das nichts zu tun. Ich glaube Du kannst dieses Problem nur bewältigen, wenn Du ausschließlich das spielst, was Du auch innerlich hörst/singst.

Du solltest nun hergehen und Dir zunächst typische Blueslicks draufschaffen. Achte dabei vor allem auf rhythmische Aspekte, Bendings und den effektiven Einsatz der Bluenotes. Achte auch auf den rudimentären Aufbau des Blues, der da ist:

|| Frage | ------- | fill/Pause | --------|
|Wiederholung der Frage | --------| fill/Pause | -------|
| Antwort | ---------- | fill/Pause | ---------|

Atme dabei. Wenn Du Luft holst ist Sendepause! Weniger ist oft mehr. Beschränke Dich bewusst auf wenige Töne. Gib dem was Du spielst Bedeutung, Ausdruck, wie bei Deinem Mundharmonikaspiel.
Klavier ist in diesem Moment heimtückisch, da der Bezug Körper - Ton nicht so direkt ist wie bei einem Blasinstrument. Diesen Bezug bekommst Du am Klavier nur durch mitsingen/mitfühlen.
 
Hallo Heiner,

ich misch´ mich mal wieder ein, wenn ich darf ... :

Ja, das ist etwas, was in unserem erste Dialog wahrscheinlich ein wenig zu kurz gekommen ist: Die Fähigkeit, nicht in einzelnen Tönen, in den Achteln, zu denken (und fühlen), sondern in PHRASEN. Eine Phrase, einen Lick, als GANZES sehen, und ihn "irgendwo" plazieren.

Und - ganau so - nicht in Einzelnoten und Achteln denken, sondern in ganz einfachen, aber "starken" melodischen Ideen, in Motiven. Natürlich setzt das voraus, daß man diese Idee im vorhinein innerlich "hört" und empfindet und entwickelt. So ein Motiv kann dann als "Sprungbrett" dienen für weitere Ideen, bzw. für Variationen darüber, oder weitere "Verzierungen", oder rhythmische Spielereien damit, ... oder ... oder ...

Es ist, meiner Meinung nach, erst ein sehr sehr später Schritt, der dann direkt zur Meisterschaft darin führt, solche Ideen dann auch noch in Bezug auf ausgefeilte Harmonien und deren Tensions oder Upper Structures zu gestalten ...

Gutes Gelingen,
LG, Thomas
 
Es ist, meiner Meinung nach, erst ein sehr sehr später Schritt, der dann direkt zur Meisterschaft darin führt, solche Ideen dann auch noch in Bezug auf ausgefeilte Harmonien und deren Tensions oder Upper Structures zu gestalten ...

Volle Zustimmung...ich versuche daher, im Improvisationsunterricht die Harmonik erst mal weitgehend zurück zu stellen bzw. maximal zu vereinfachen. Das erste Opfer des rationalen Denkens ist die authentische Phrasengestaltung. Und rationales Denken überwiegt sehr sehr schnell die Sensibilität für Phrasierung und drängt sie beiseite. Sich eine glaubhafte Phrasengestaltung zu erarbeiten und trotz allen harmonischen Denkens zu behalten ist kein leichtes Ziel.

Harald
 
Das erste Opfer des rationalen Denkens ist die authentische Phrasengestaltung. Harald

D E R ist guuuut ! Ich glaube, da steckt ein tiefe, tiefe Wahrheit d´rin ... , soweit ich das beurteilen kann .... :)

LG; Thomas
 

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